„Ubique Terrarum“ – Gestern und heute
von Frank Schwarzbeck
Die „Ubique Terrarum“- Bände verbinden, so heißt es am Beginn ihrer früheren Taschenbuchausgaben, „in unnachahmlicher Weise … das Geheimnis fremder Länder mit den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft und der Technik. So verschmelzen fesselnde Unterhaltung und Wissensvermittlung zu einer Einheit.“ „Nicht zu Unrecht gilt deshalb Herbert Kranz als der Schöpfer eines neuen Typs des Jugendbuches, der auch Erwachsene nicht aus seinem Banne lässt.“
Hiermit ist ein wesentliches Kennzeichen der Reihe beschrieben, nämlich die Internationalität der UT-Bände. Sie ergibt sich nicht nur aus den Darstellungen spannender Expeditionen auf verschiedenen Kontinenten, in denen sich viel über außereuropäische Kulturen lernen lässt. Sie kommt auch in den Protagonisten des europäischen Expeditionsteams selbst zum Ausdruck, in dem Personen mit sehr unterschiedlichen Charakteren, Stärken und Schwächen eng zusammenarbeiten und sich gut ergänzen. Eine solche Kooperation und auch enge Freundschaft von Bürgern aus teils früheren Kriegsgegnern mit Deutschen war beim Erscheinen der UT-Bücher, das acht Jahre nach 1945 begann, noch nicht selbstverständlich. Es ist daher bemerkenswert, dass die Reihe auch ins Französische, Niederländische, Italienische, Spanische und Schwedische übersetzt wurde. 2003 – 2010 wurde sie vom Enkel des Autors, Georg Kranz, mit einem aktualisierten Sachverzeichnis am Ende jedes Bandes neu aufgelegt. Seit der ersten Publikation sind inzwischen über 70 Jahre vergangen. Was lässt sich mit dem Abstand von mehr als zwei Generationen aus heutiger Sicht zu der Reihe sagen?
Band 1 spielt kurz vor der völkerrechtlichen Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien, weswegen die Londoner Regierung auf die Ausbeutung der Ölvorkommen in Kafiristan verzichtet. Danach müsste diese UT-Expedition 1947 stattgefunden haben. In Band 2 wird an einer Stelle ausgeführt, dass in Europa „dann ein Krieg begann“. Hier kann nur der 2. Weltkrieg gemeint sein. Dafür spricht auch, dass das Team mit einem Wasserflugzeug von Lissabon nach Rio de Janeiro fliegt, solche Flüge gab es erstmals 1922, sie wurden indes nach dem 2. Weltkrieg eingestellt. Da das UT-Team aber immer direkt von Einsatz zu Einsatz geschickt wird, am Anfang also vom Hindukusch nach Brasilien, können die Geschehnisse von Band 2 sich nicht vor 1939 abgespielt haben. Die beiden genannten Vorkriegselemente im Brasilien-Buch ergeben sich vielleicht daraus, dass Herbert Kranz, wie auch Uli Otto darlegt, schon Jahrzehnte vor der Publikation der UT-Reihe einige ihrer Abenteuer im Kopf hatte, sie ursprünglich viel früher veröffentlichen wollte, davon jedoch wegen ihrer wenig in die damalige Zeit passenden Internationalität wieder absah. Sehr klar ist der historische Kontext in Band 5, dessen Hintergrund der frühe Kalte Krieg bildet. Auch weitere Bände stellen sich so dar, dass sie in den 1950er Jahren stattgefunden haben könnten, in denen sie ja auch publiziert worden sind. Das wird deutlich bei den Abenteuern in Malaya (Band 6) wie bei denen in Marokko (Band 8), in Ländern, die 1957 von Großbritannien bzw. 1956 von Frankreich und Spanien unabhängig wurden. Die UT-Expeditionen scheinen sich jeweils kurz davor abzuspielen. Es gilt auch für die Begegnung im brasilianischen Amazonien mit General Rondon (Band 2), der bis 1958 lebte. Allerdings scheinen die UT-Abenteuer meistens einige Wochen oder auch Monate, jedoch nicht ein ganzes Jahr lang zu dauern. Tschandru-Singh kann also kaum in Band 1 vierzehn und in Band 6 neunzehn Jahre alt gewesen sein. Aber das ist ein Punkt, über den sich wie über weitere leicht hinweg lesen lässt.
Die 10 UT-Bände müssen im Kontext vieler Rahmenbedingungen der 1950er Jahre, teilweise auch der Jahrzehnte davor verstanden werden. 1891 geboren, erlebte Herbert Kranz seine Kindheit, Jugend und sein frühes Erwachsenen-Alter im Kaiserreich Wilhelms II. und war im 1. Weltkrieg zwei Jahre als Freiwilliger Infanterist. Während der Weimarer Republik begann seine publizistische und wissenschaftliche Arbeit in verschiedenen Positionen. 1933 verlor er eine Professur und war während des „Dritten Reiches“ als freiberuflicher Schriftsteller oder als Redakteur tätig, zeitweise hatte er Berufsverbot. Freier Schriftsteller war er auch in der Nachkriegszeit, in der die UT-Reihe ab 1953 erschien. Der Autor war weltoffen und liberal, aber auch von manchen Wertmaßstäben der Adenauer-Ära und der vorangegangenen Jahrzehnte nicht unberührt.
Das zeigt sich schon beim Expeditionsteam selbst und bei seiner Hierarchie zwischen den drei Führungspersonen und ihren drei bzw. vier Mitarbeitern. Im Nachwort von 1959 zu den UT-Bänden „Worum es mir ging“ spricht Herbert Kranz zunächst von einem „Team von drei Männern“, erst später auch von deren „Getreuen“. Dem entspricht auch die Anredeform. Der Graf duzt Neunauge und lässt sich von diesem durchgehend siezen und mit „Herr Graf“ anreden. „Herr Graf“ sagt ebenso Plumpudding, nur Figur beschränkt sich auf „Graf“ und macht es damit wie der Chef und GG. Auch dass die drei Führungspersonen, die in zehn Abenteuern in teils extremen Situationen auf Leben und Tod verbunden sind und sich immer aufeinander verlassen können, sich über alle Bände konstant siezen, ist sicher Usance von „Männern von Rang“, wie betont wird, ihrer Zeit. Es käme heute so kaum noch vor. Das gegenseitige Duzen bleibt auf die Mitarbeiter beschränkt, mit der bemerkenswerten Abweichung bei Figur und GG.
Sehr markant ist die untergeordnete Rolle von Frauen, die auch Herbert Kranz selbst in „Worum es mir ging“ hervorhebt. Unter den Ausnahmen ragen Señora Cordero und Juana Vido in Band 4 sowie Senhora Imagina de Mattos Feijo in Band 2 hervor. Deren Format hätte auch den Rollen von Frauen in den Bänden gut getan, die in anderen Ländern spielen.
Der Unterschied zu heute kommt ebenfalls in der Annahme eines generellen Wissensvorsprungs von Europäern zum Ausdruck. Auch im Begriff „Eingeborene“, der häufig für Menschen in nicht-europäischen Ländern verwandt wird, früher üblich war, doch inzwischen als Ausdruck der Kolonialsprache gilt. Und noch deutlicher wird der Kontext vergangener Jahrzehnte in der Kontrastierung von Weißen und Schwarzen. Im brasilianischen Dschungel werden die Flugzeugentführer von einer Gruppe von Desperados erschossen, unter denen ein Mann ist, dessen „überlegene Ausdrucksweise“ „ihn als Angehörigen der weißen Rasse aus(weist)“. Schon diese Formulierung ist vielsagend. In Brasilien, in Arizona und auch in anderen UT-Bänden werden Schwarze durchgehend als „Neger“ bezeichnet. In den 1950er Jahren war dies noch „normal“, seit längerem ist der Ausdruck jedoch abwertend und heute unmöglich. Im Band 3 spielt mit Odysseus ein junger Afroamerikaner eine wichtige Rolle, der sympathische Züge trägt, dem sogar ein „kluger Kopf“ attestiert wird, der aber offenbar keinen Satz korrekt aussprechen kann und Weiße mit „Massa“ anredet. Neunauge, der Odysseus und weiteren Schwarzen ein Vermögen verdankt, da diese – für ihn und Plumpudding – auf der Suche nach Gold durch Dynamit-Sprengung per Zufall Wasserquellen in den Deadlands entdecken, unterstützt Odysseus und die weiteren Afroamerikaner am Ende des Bandes finanziell, damit sie vorankommen. Am Anfang des Bandes retten Plumpudding, Neunauge und Figur Odysseus das Leben, als ein fanatischer Tombstoner Rassist, Old Hatchcatch, seine Hunde auf ihn hetzt, weil der „Nigger“ den Bürgersteig vor seinem Haus betritt. Kurz darauf ist Neunauge jedoch die Frage von Frau Blinn sehr peinlich, wer ihm ihr Haus als Herberge empfohlen hat, denn „dieser schmutzige Negerjunge war doch keine Referenz für eine so vollendete Dame …“ Direkt danach wird indes hervorgehoben, dass Frau Blinn aber damit überhaupt kein Problem hatte.
Die Haltung gegenüber Schwarzen in den UT-Bänden ist ambivalent. Einerseits von wohlwollendem Paternalismus und der Forderung nach menschlich anständiger Behandlung, andererseits aber auch von klarer Betonung der Überlegenheit von Weißen gekennzeichnet. Sie ist damit nicht unähnlich der Position in Karl May – Büchern, die Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben wurden. Dies ist jedoch die einzige Gemeinsamkeit mit Karl May, von dem sich Herbert Kranz in „Worum es mir ging“ zu Recht deutlich abgrenzt.
Nach Plumpuddings plötzlicher Verwandlung zum Millionär bietet der Chef dem Iren das „Du“ an. Es fragt sich, wie beide vom „Sie“ zum „Du“ übergehen können, wenn sie allein auf Englisch kommunizieren. Dies lässt sich natürlich auch überlesen und würde nur in einer anglophonen Fassung der Bände auffallen. Schon etwas weniger zu überlesen ist die Darlegung der Sprachkenntnisse der Mitglieder des UT-Teams insgesamt. Wenn der Chef nur Englisch, Plumpudding nur Englisch und Irisch, Neunauge nur Französisch spricht, in welcher Sprache reden dann Erstere mit Letzterem, was sie ja dauernd tun? Hier hat die Personen-Stereotypisierung über die Logik obsiegt, indem sie dem Chef und Neunauge die Beherrschung nur einer, nur ihrer jeweiligen Muttersprache, zugestand. Die Haltung des Chefs, Englisch müsse eigentlich jeder sprechen, war in der Tat früher in England viel verbreitet, immerhin kann er im 10. Band, der in Südfrankreich spielt, ein paar Worte gebrochen Französisch. Dass bei Neunauge andere Fähigkeiten als sprachliche im Vordergrund stehen, ist auch verständlich, aber dass er in zehn Abenteuern nicht ein einziges Wort Englisch lernt schon etwas weniger. Der Graf spricht Französisch, Englisch und Italienisch, welches er auf Sardinien gut anwenden kann. Das absolute Sprachgenie ist GG, der neben Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch, Chinesisch, Hindustani, Kafirisch, die Lingua Geral in Amazonien, das indianische Tupi in Amazonien, die grönländische Inuit-Sprache, Malaiisch und Arabisch beherrscht, um hier nur 14 Sprachen aufzuzählen. Der Graf betont gegenüber dem Anwalt der Familie Castaneda in Rio, Dr. Geist spreche „jede Sprache“. Nur in Band 7 bemerkt GG, Sardisch habe er noch nicht gelernt, ist aber trotzdem in der Lage, den Brief von Gavinu an seine Mutter zu lesen. Hier scheint es, dass dem „Großen Geist“ des Guten etwas zu viel bescheinigt wird, wie er ja überhaupt als der Universalgelehrte des Teams fungiert, zwar an keiner Reckstange hochkommt, aber über enzyklopädisches Wissen verfügt. Interessant ist, dass Figur sich auch bei den linguistischen Fähigkeiten wieder von den anderen „Getreuen“ absetzt, weil er unter ihnen nicht nur der unhierarchischste, sondern auch der sprachlich vielseitigste ist.
Insgesamt entsteht der Eindruck, mit dem Chef und Plumpudding, dem Grafen und Neunauge sowie GG und Figur ist jeweils ein anglo-irisches, franko-französisches und deutsch-deutsches Gegensatzpaar konzipiert, so dass nicht nur das Team insgesamt, sondern auch die drei Duos miteinander kontrastieren und sich komplettieren. Die „weltumspannenden“ Sprachfähigkeiten von GG, der als überaus sympathische und bescheidene Persönlichkeit dargestellt wird, hätten jedoch gewisse Grenzen haben können. Und die Kapazitäten der Mitarbeiter der Führungskräfte, die an manchen Stellen anklingen, wären ausbaufähig gewesen. Etwas weniger Betonung ihrer Dimension als „Getreue“, dagegen mehr derjenigen als Teammitglieder und Freunde, die GG ja gegenüber dem Auftraggeber und Schlossherrn Marûn im Libanon (Band 9) auch betont, hätte durchaus gepasst.
Dies umso mehr, weil die sehr lebendig, spannend, humorvoll, psychologisch feinfühlig und teils bewegend geschriebenen UT-Bände mit viel Sachinformationen und real-historischen Bezügen eine klare Botschaft enthalten. Nicht die von Hierarchien, nicht die von unterschiedlichen Abstammungen, Herkünften, Begabungen, Bildungen und Lebenschancen. Sondern die von Empathie, Toleranz und Internationalität, von der Überwindung von Ungerechtigkeiten, Missständen und menschlichen Notlagen durch Beiträge eines internationalen Teams, das an humanistischen Werten orientiert ist, „überall auf der Welt – ubique terrarum“, wie immer die Traditionen und Bräuche der Menschen in den Einsatzgebieten auf verschiedenen Kontinenten und in verschiedenen Kulturkreisen auch sind. Die UT-Bände leisten gute Anstöße dazu, über den „nationalen Tellerrand“ hinaus zu denken und die Vielfalt von Kulturen zu respektieren. Die Reihe weiß sich jedoch ebenso universalen Menschenrechten verpflichtet, die nicht nur auf dem Papier gelten sollten. In „Worum es mir ging“ schreibt Herbert Kranz, die UT-Reihe möchte „auch Einblicke in das Wesentliche geben, das zeitlos gültig ist.“ Dies gelang ihr gestern. Und dies gelingt ihr heute nach wie vor. Bei allem, was sich über manche Spuren durch die Zeit sagen lässt, in der die zehn Bücher entstanden. Und auch durch Spuren aus den Jahrzehnten davor. 1
Die UT-Bände sind Jugendbücher, deren Inhalt, wie ihr Autor in „Worum es mir ging“ zu Recht betont, „eine Lesegrenze nach unten, aber keine nach oben kennt“. Es wäre zu wünschen, dass ihre Lektüre noch lange fortgesetzt wird und sich heutige Autoren und Autorinnen von „Ubique Terrarum“ für neue Erzählungen inspirieren lassen, die das Anliegen der Reihe in die Gegenwart übertragen.
- In den 2003 – 2010 herausgegebenen Neuausgaben der UT-Bände sind deshalb auch bestimmte Begriffe geändert worden, da sie heute als herabwürdigend empfunden werden können. Georg Kranz meint, sein Großvater würde sie jetzt nicht mehr verwenden. Angesichts der klaren humanistischen Grundeinstellung von Herbert Kranz kann dem nur zugestimmt werden. ↩︎
©Frank Schwarzbeck, Februar 2024
Dr. Frank Schwarzbeck (*1950) konnte als Student, Doktorand, durch Arbeit für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sowie auch darüber hinaus viele Länder in Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik besuchen, darunter waren längere Aufenthalte in Argentinien, Französisch-Guayana und Ruanda. Als Jugendlicher lernte er die UT-Bände von Herbert Kranz kennen und ist bis heute Freund der Reihe geblieben. „Gestern und heute“ erschien in einer ersten Fassung 2017 als Nachwort in der 2. Auflage von Uli Ottos Buch „Auf den Spuren von Ubique Terrarum“ und unverändert in der 3. Auflage 2023. Diese Version ist eine Überarbeitung.